Wenn Pferde bestimmte Menschen tatsächlich als Führer betrachten, sollten sie ihnen freiwillig und ganz von selbst folgen, so die Wissenschaftler. Doch die Realität sieht vielfach anders aus … Foto: Simone Aumair
Viele Reitlehren und Trainingsanleitungen gehen davon aus, dass der Mensch gleichsam die Rolle eines Alpha- oder Leittieres bei Pferden übernehmen müsse, um sie erfolgreich trainieren und ausbilden zu können. An diesem Konzept hegen Wissenschaftler nun erhebliche Zweifel: Elke Hartmann, Janne Christensen und Paul McGreevy führten eine vergleichende Meta-Studie durch und untersuchten rund 100 wissenschaftliche Arbeiten im Hinblick darauf, ob das Konzept von Dominanz und Führerschaft zwischen Mensch und Pferd zu brauchbaren Trainingsresultaten führt. Sie kamen dabei zu einem bemerkenswerten Ergebnis: Das tut es eher nicht.
„Die Reaktionen von Pferden auf bestimmte Trainingsschritte sind viel wahrscheinlicher ein Ergebnis von Verstärkung – und nicht das Ergebnis einer Führungsrolle des Menschen oder eines hohen sozialen Status, den er vermeintlich erlangt hat“, so das Resümee der Wissenschaftler. Demnach sei es im Training erheblich effektiver, Wissen über die natürlichen Verhaltensweisen und die Lernfähigkeit von Pferden anzuwenden, als mit Dominanz und Führerschaft zu arbeiten. Pferde haben eine natürliche Tendenz, ihre Aktivitäten aufeinander abzustimmen, um den Zusammenhalt der Gruppe zu stärken. In diesem gruppendynamischen Prozess ist die Führungsrolle aber nicht auf ein einziges Pferd mit dem höchsten sozialen Status oder das älteste, erfahrenste Pferd beschränkt: Wie die Wissenschaftler herausfanden, kann nahezu jedes Pferd in der Gruppe Führungsaufgaben übernehmen.
Die Forscher weiter: „Angesichts dieser flexiblen und komplexen Sozialstruktur und der Vielzahl von Faktoren, die innerhalb einer Herde oder Gruppe die Hierarchie bestimmen, ist die Bedeutung von Dominanz in der Mensch-Pferd-Beziehung vermutlich nur gering.“ Ein wichtiges Element, das ganz maßgeblich mitbestimmt, wie sich Pferde einem Menschen gegenüber verhalten, ist jedoch die Beziehung zwischen ihnen. Eine ,Beziehung‘ entsteht durch eine Abfolge von Interaktionen über einen bestimmten Zeitraum zwischen zwei oder mehr Individuen – und sie wird wesentlich geprägt durch die Erwartungen, die sich auf der Basis vorangegangener Interaktionen geformt haben. Bisherige Forschungen weisen darauf hin, daß Pferde einzelne Personen oder Trainer erkennen und sich an sie erinnern können – und ob die zurückliegenden Interaktionen mit ihnen angenehm oder unangenehm waren. Daraus lässt sich in den meisten Fällen die Reaktion von Pferden auf Menschen gut erklären und sogar aus vorherigen Begegnungen ableiten. „Gutes Training hat das Ziel, angstvolle Reaktionen von Pferden dem Menschen gegenüber zu minimieren, um die Lernleistung zu steigern. Die Qualität der Mensch-Pferd-Beziehung hängt wesentlich davon ab, ob darin Angst und Furcht weitgehend reduziert werden können.“
Hierarchien hingegen werden innerhalb einer Pferdegruppe oft erst im Kampf um Nahrung relevant – die im Training üblicherweise keine Rolle spielen. „Wie jüngste Forschungsergebnisse gezeigt haben, varriert die Führungsrolle innerhalb der Pferdegruppe – und jene Tiere, die als Führer agieren, sind nicht zwangsläufig auch jene, die bei Streitigkeiten um Nahrung an oberster Stelle stehen. Pferde lernen, wie auch andere Spezies, im Wesentlichen durch Verstärkung, die auf ein bestimmtes Verhalten folgt – und nicht, weil sie den Sozialstatus eines Menschen oder dessen Führungsstärke erkennen. Deshalb ist es – aus der Perspektive des Pferdes – vermutlich nur von geringer Relevanz, ob man als Mensch der quasi-dominante Führer eines Pferdes wird. Zudem ist es fraglich, ob Pferde überhaupt Menschen in ihre soziale Hierarchie einschließen“, so die Wissenschaftler.
Derartige Konzepte basieren vermutlich auf einer „Vermenschlichung“, also auf der Tendenz, menschliche Eigenschaften wie Respekt und Autorität auf Pferde zu übertragen. Die meisten Pferdebesitzer wünschen sich eine Beziehung zu ihrem Pferd, die auf gegenseitigem Vertrauen und auf Zusammenarbeit basiert. Dennoch, so die Forscher weiter, haben Pferde bei der Arbeit und beim Training vom Boden aus meist nur eine sehr geringe Eigenständigkeit – weil der Mensch schon aus Sicherheitsgründen die Kontrolle behalten möchte: „Der Versuch, das Pferd zu dominieren, um darüber Kontrolle zu behalten, ist häufig die Rechtfertigung für die Anwendung harscher Trainingsmethoden und von Bestrafung.“
Als Folge davon würden die meisten Pferde versuchen, dem Trainer auszuweichen, Fluchtreaktionen oder Verteidigungsverhalten zu zeigen – allesamt unerwünschte Verhaltensweise in einer Trainingssituation, die sowohl das Wohl des Pferdes als auch die Sicherheit des Menschen gefährden.
Die Forscher stellten sich daher die Frage, ob Pferde während des Trainings eine aktivere Rolle einnehmen können – oder sind sie letztlich doch nur ,Befolger‘ mit geringer Autonomie sind, wenn dem Training das Konzept einer „Führerschaft“ des Menschen zugrundeliegt? Sie fanden eine überraschende Antwort: „Wenn Pferde selbst entscheiden könnten, ob sie an einem Training teilnehmen oder nicht – dann wäre die Anwesenheit von anderen Pferden aus der Gruppe viel wichtiger als menschliche Gesellschaft.“
Tatsächlich wirft das Konzept, dass Menschen als „Führer“ von Pferden auftreten sollen, eine Reihe von Fragen auf: „Was ist, wenn das Pferd beispielsweise dem Menschen nicht in den Anhänger folgt? Spricht das für einen Mangel von Vertrauen in den Menschen und ein Versagen des Menschen als Führungskraft? Und welcher bestimmte Aspekt der Führungsqualität funktioniert nicht? Ein anderes Beispiel ist das Einfangen von Pferden auf der Weide. Wenn Pferde bestimmte Menschen tatsächlich als Führer betrachten – dann würden wir doch erwarten, dass sie ihnen freiwillig und ganz selbstverständlich folgen und die Artgenossen einfach zurücklassen, oder nicht?“
Es gibt nur unzureichende Beweise dafür, dass Pferde aus anderen Gründen auf Menschen zugehen als aus Neugierde oder weil sie dazu trainiert worden sind, so die Wissenschaftler. Insgesamt gebe es jedenfalls deutlich mehr Hinweise, dass die Reaktionen der Pferde auf die Ausbildung viel eher ein Ergebnis von positiver Verstärkung waren, bei dem die erwünschten Antworten klar und konsequent belohnt wurden – und nicht das Ergebnis einer Führungsrolle oder eines hohen sozialen Status des Trainers, so das Resümee der Forscher: „Das Wissen über das natürliche Verhalten und die Lernfähigkeiten von Pferden erklären die erzielten Trainingsergebnisse erheblich besser und zuverlässiger als ,vermenschlichende‘ Erklärungen und die Anwendung von Dominanz- und Führungskonzepten, die das Pferdewohl und die menschliche Sicherheit gefährden können.“
Die Studie „Dominance and leadership: Useful concepts in human-horse interactions?“ von Elke Hartmann, Janne W. Christensen und Paul D. McGreevy wurde im ,Journal of Equine Veterinary Science‘ veröffentlicht und kann in englischer Originalfassung hier nachgelesen werden.